5. Kapitel

 

Das House of Order wird von den Clanoberhäuptern geleitet. Diese ernennen auch die einzelnen Leiter der Clanhäuser. Jedes Clanhaus hat eigene Abteilungen für Meldewesen, Formelvergabe, Blutausschank und -akquise.«

»Stimmt genau.«

»Und die Clanhäuser beschäftigen Friedenshüter, wie dich.« Victoria zeigte lächelnd auf Adam. »Dann gibt es noch den Hüter der Formel, der zufällig mein Ehemann ist.«

Adam lächelte über den Stolz in ihrer Stimme. »Genau.«

»Und schließlich sind da noch die ... die ...«, sie schnippte ungeduldig mit den Fingern, doch es wollte ihr nicht einfallen.

Adam hatte Erbarmen und sagte: »Du meinst sicher die Interrogatoren.«

»Ah ja! Die vergesse ich immer. Sie gehören auch zum House of Order.« Victoria schwieg einen Moment, und ein verlegener Ausdruck trat auf ihr Gesicht. »Tut mir leid, das mit meiner Schwester«, murmelte sie und rückte unbehaglich auf ihrem Barhocker hin und her.

Adam warf einen Blick zu dem Tisch, an dem Victorias Schwester mit Cem und ihrem derzeitigen Schatz, Hugo, saß. Eine Hand besitzergreifend auf dem muskulösen Arm des Rugby-Spielers hob sie mit der anderen ein Glas Kir Royal an die kirschrot geschminkten Lippen. Hugo redete eifrig auf sie ein. Grace nickte abwesend, den Blick hungrig auf Adam gerichtet, der mit Victoria an der Bar saß.

Adams Blick kehrte zu Victoria zurück. Sie trug ein schlichtes, eng anliegendes pflaumenblaues Kleid, das ihr ausnehmend gut stand. Wie sehr es sich von der knappen, flittchenhaften Goldlame-Nummer unterschied, die ihre Schwester trug. Dass zwei Geschwister so verschieden sein konnten!

»Du musst dich nicht entschuldigen. Sie ist noch jung, und du hast dein Bestes getan.«

Victoria musterte ihn skeptisch. »Mein Bestes? Manchmal bin ich mir da nicht so sicher. Sie ist einfach schamlos.

Wie sie diesen armen Hugo am Gängelband herumführt.

Und wie sie dich ansieht...«

Adam grinste. »Glaub mir, Victoria, Hugo mag am Gängelband herumgeführt werden. Und was mich betrifft: Ich würde deine Schwester nie anrühren. Cem ist wie ein Bruder für mich. Du und deine Schwester, ihr gehört jetzt zur Familie.«

»Zur Familie«, wiederholte Victoria langsam. Als sie Adam ansah, geriet der in Panik.

»Bitte nicht weinen!«, sagte er hastig. »Wenn ich etwas gesagt haben sollte, das dich gekränkt hat, dann nehme ich es zurück!«

»Nein, das tust du nicht.« Victoria tupfte sich lächelnd mit einer Papierserviette die Träne ab, die aus einem Auge gekullert war. »Für Rückzieher ist es zu spät. Ab jetzt bist du mein großer Bruder.«

Sie sagte es beinahe sehnsüchtig. Adam überlegte unwillkürlich, wie hart ihr Leben gewesen sein musste, bevor sie Cem kennen gelernt hatte. Hart und einsam. Eine junge Victoria, allein gegen die Welt. Und eine minderjährige Schwester, die sie aufziehen musste. Er konnte sie nur bewundern. Was sie aus ihrem Leben gemacht hatte! Sie hatte sich ihr Universitätsstudium ganz allein finanziert, hatte anschließend eine kleine Zeitschrift gegründet, aus der nun ein international anerkanntes Blatt geworden war.

Victoria hatte ihrer Schwester die beste Schulbildung ermöglicht, die für Geld zu haben war, hatte ihr eine Stellung bei ihrer Zeitschrift angeboten. Aber Grace wollte nicht arbeiten, Grace wollte gar nichts machen. Soweit Adam es aus den Gesprächen der beiden in den letzten Tagen mitbekommen hatte, wohnte Grace gewöhnlich mit einem ihrer reichen Liebhaber zusammen. Und wenn sie gerade keinen hatte, fiel sie ihrer Schwester zur Last.

»Du ehrst mich«, sagte Adam. Er drückte warmherzig Victorias Hand. Dann meinte er: »Und da ich nun dein großer Bruder bin, ist es meine Pflicht, dir zu zeigen, wo's langgeht.«

»Wie meinst du das?«, fragte Victoria misstrauisch.

»Ich meine dein neues Leben. Wie du dich darin am besten zurechtfindest. All die kleinen Tricks eben.«

Adam zwinkerte ihr zu, und Victoria starrte ihn verblüfft an. Dann jedoch beugte sie sich vor, begeistert grinsend wie ein Kind.

Adam warf einen Blick den Tresen entlang. Es fiel ihm nicht schwer, den Vampir unter den Bartendern auszumachen. Die All Bar One in der George Street besaß eine Blutausschanklizenz. Und da eine solche nur von Vampiren beantragt werden konnte, war der Barbesitzer natürlich auch ein Vampir. Die Bar, die auch für »normale« Kundschaft offen stand, beschäftigte daher in jeder Schicht mindestens einen Vampir hinter der Bar - neben den gewöhnlichen Barmännern und -frauen.

Vampire lassen sich am besten an ihrer Aura erkennen, aber nicht alle Vampire können eine Aura sehen. Daher hatte die SVA eine neue, leichtere Methode ersonnen: Jeder Vampir-Bartender musste eine Plakette an der Hüfte tragen, auf der stand Save the Human.

»Habt ihr in deinem Kurs schon gelernt, wie man in einer SVA-Bar einen Drink bestellt?«, erkundigte sich Adam.

Er hatte keine Ahnung, was man ›Vampirbewerbern‹ in den Kursen beibrachte, an denen seine Schwester Helena maßgeblich mitgewirkt hatte. Bestimmt lernten sie so grundsätzliche Dinge wie das Bestellen von Blut in einer Vampirbar, oder?

»Klar. Sam hat uns das erst gestern alles genau erklärt.«

Sam. Adam zog die Augenbrauen hoch. Sie nannte ihren Lehrer also schon beim Vornamen.

Sie seufzte, als sie seinen Gesichtsausdruck bemerkte.

»Müsst ihr euch so ähneln, du und Cem?«

»Na ich weiß nicht, findest du es richtig, deinen Lehrer mit dem Vornamen anzureden?«

»Es geht doch nicht etwa um Sam?«, fragte Cem mit unverhohlener Missbilligung. Er war lautlos hinter Victoria und Adam aufgetaucht.

»Nein, geht es nicht!«, antwortete Victoria stirnrunzelnd und verschränkte die Arme vor der Brust.

Wir mögen Sam wohl nicht?, fragte Adam telepathisch.

Wir mögen keinen Mann, der meiner Frau nachsteigt, entgegnete Cem.

Adam brauchte gar nicht erst Cems Stimme zu hören, um zu wissen, wie wenig sein Freund den Lehrer seiner Frau ausstehen konnte.

»Habt ihr euch gerade telepathisch unterhalten?«, fragte Victoria, halb verärgert, halb neugierig.

»Kann sein«, grinste Cem und gab seiner Frau einen Kuss auf die Stirn. »Also, was gibt's hier zu bereden, das so wichtig ist, dass ihr mich dort am Katzentisch habt sitzen lassen?«

Victoria warf Adam einen strahlenden Blick zu. »Ich wollte Adam gerade erklären, dass ich weiß, wie man einen Merlot bestellt.«

Dann wusste sie also Bescheid. Adam gab der jungen Frau im engen weißen Tank-Top mit der Save-the-Human-Plakette an der Hüfte einen Wink.

»Also dann, probier's mal«, forderte er Victoria auf.

Victoria schaute unsicher zu der Barfrau hin, doch dann nickte sie entschlossen.

Die Barfrau kam heran. »Was darf ich Ihnen bringen?«, erkundigte sie sich. Ihr Blick war auf Adam gerichtet, den sie anerkennend musterte. Dieser wies mit einer Kopfbewegung auf Victoria.

»Die Dame wollte etwas bestellen.«

Der Blick der Barfrau huschte zwischen Victoria und Cem hin und her. »Ja, bitte?«

Victoria räusperte sich und tippte mit dem rechten Zeigefinger zweimal auf den Tresen. Dann sagte sie: »Ein Glas Merlot, bitte.«

Die Barfrau zögerte, und ihr Blick huschte hilfesuchend zu Adam.

»Victoria, du bist viel zu zurückhaltend«, rügte er sie lächelnd. Dann ließ er seine Augen einen Moment lang kohlschwarz aufblitzen, bevor sie wieder ihre ursprüngliche Farbe annahmen. Die Barfrau wandte sich lächelnd ab, um das Gewünschte zu bringen.

»Ich bin so dumm«, stöhnte Victoria.

Cem schlang sofort einen Arm um seine Frau. »Nicht doch, Schatz. Das wird schon noch. Wir alle machen hin und wieder kleine Fehler, selbst die Erfahrensten unter uns.«

»Ja, aber ihr könnt diesen Trick mit den Augen machen, ich nicht«, murrte sie.

»Noch nicht, Liebling. Aber bald«, beruhigte Cem sie.

Kurz darauf tauchte die Barfrau mit einem Weinglas auf, das sie Victoria hinstellte. Victoria musterte die dicke rote Flüssigkeit mit weit aufgerissenen Augen.

Adam zückte seine Geldbörse. »Cem, geht doch schon mal zurück an den Tisch. Ich erledige das hier.«

Cem nickte und führte Victoria von der Bar weg, und Adam reichte der Barfrau einen Zehn-Pfund-Schein.

Sie beugte sich vertraulich vor: »Die Kleine wird sich früher oder später dran gewöhnen müssen«, sagte sie leise.

Wie wahr. Aber das brauchte Zeit. Junge Vampire durchliefen in der Pubertät eine Phase erhöhter Blutlust, doch bei ›Neubewerbern‹ war es meist das Gegenteil: Ihnen graute vor dem Gedanken, Blut trinken zu müssen.

Aber wie die Barfrau gesagt hatte, Victoria würde sich daran gewöhnen müssen, sobald sie die Transformation durchlaufen hatte.

»Das wird sie schon. Das wird sie.«

Unsterblich 04 - Unsterblich wie der Morgen
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